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Σάββατο 29 Φεβρουαρίου 2020

[DE] AUSGELIEFERT - ILLEGALE ABSCHIEBUNGEN AM EVROS

Ayse Erdogan wurde in der Türkei als Gülen-Anhängerin verfolgt. Die Lehrerin floh nach Griechenland und wollte einen Asylantrag stellen. Doch dann gelangte sie in die Hände griechischer Polizisten.


Giorgos ChristidesSteffen Lüdke und Maximilian Popp
SPIEGEL


Geflüchtet, gestellt und offenbar zurückgeschleppt: Ayse Erdogan, Mathematiklehrerin aus der TürkeiForensic Architecture

Als Ayse Erdogan nach ihrem Handy greift, um sich zu filmen, ahnt sie bereits, welchem Risiko sie ausgesetzt ist. Sie befindet sich auf der griechischen Seite der Grenze zur Türkei, sie hat es nach Europa geschafft - aber sie ist nicht in Sicherheit.

Ayse Erdogan, eine Mathematiklehrerin aus der Türkei, 28 Jahre alt, versteckt sich an diesem Morgen des 4. Mai 2019 in der Nähe des griechischen Dorfs Nea Vyssa. Mit zwei türkischen Begleitern hat sie zuvor den Evros überwunden, den wilden Grenzfluss, der immer wieder Migranten davonträgt und in den Tod reißt.

In der Türkei war Ayse Erdogan, die nicht verwandt ist mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, zu mehr als sechs Jahren Haft verurteilt worden. Die türkischen Behörden beschuldigen sie, der Sekte des Islamistenpredigers Fethullah Gülen anzugehören, die in der Türkei als Terrororganisation gilt. Ayse Erdogan durfte bis zum Beginn ihrer Revisionsverhandlung das Gefängnis verlassen, allerdings nur unter der Auflage, im Land zu bleiben.


Kurz nach ihrer Freilassung floh Ayse Erdogan. Sie reiste nach Norden, um nach Europa zu gelangen - so wie Tausende andere Türken, die als Gülen-Anhänger verfolgt werden.

"Wir haben Angst vor einem Pushback"
Ayse Erdogan, im Gras auf der griechischen Seite der Grenze
Ayse Erdogan möchte einen Asylantrag stellen. Die Türkin will das Recht in Anspruch nehmen, das die Europäische Union jedem Menschen gewährt, der europäischen Boden erreicht. Zumindest in der Theorie.

"Wir sind politische Asylbewerber", sagt Ayse Erdogan in die Kamera. "Wir fliehen vor türkischer Verfolgung. Wir verstecken uns in Nea Vyssa und haben Angst vor einem Pushback." Sie schickt die Videos an ihren Bruder Ihsan, der zu diesem Zeitpunkt bereits in Athen ist. Ein Journalist wird sie später auf Twitter veröffentlichen, die griechische Zeitung "Kathimerini" über ihren Fall berichten.

Ayse Erdogan schickt ihrem Bruder ihren Standort per WhatsApp. Außerdem schreibt sie E-Mails an griechische Menschenrechtsanwälte und an den Chef des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR: "Wenn wir in die Türkei zurückgeschafft werden, werden unsere Leben in Gefahr sein."

Noch am selben Tag wird Ayse Erdogan über den Evros zurück in die Türkei gebracht. Türkische Grenzbeamte greifen sie am nächsten Morgen um 8.10 Uhr auf, sperren sie ins Gefängnis. Am Tag darauf wird sie verurteilt, weil sie das Land illegal verlassen hat.

Außengrenze der EU: Blick auf den Evros von der griechischen Seite


Alkis Konstantinidis/ REUTERS


Was genau in den Stunden davor passierte, hat die Rechercheagentur Forensic Architecture, eine Forschungsagentur mit Sitz am Goldsmiths' College der Universität London, erstmals rekonstruiert. Der SPIEGEL hat zudem mit dem Bruder sowie den Anwälten von Ayse Erdogan gesprochen und türkische Gerichtsdokumente zu dem Fall eingesehen.

Das Material lässt nur einen Schluss zu: Ayse Erdogan befand sich in Griechenland in Gewalt der griechischen Behörden, anschließend wurde sie illegal zurück in die Türkei gebracht - mutmaßlich von griechischen Grenzbeamten oder Polizisten. Sie selbst spricht von maskierten Männern, die sie in der griechischen Polizeistation abgeholt hätten.

Auf Anfrage des SPIEGEL teilte die griechische Polizei mit: "Die griechische Polizei beachtet bei der Erfüllung ihrer Aufgaben stets griechisches und europäisches Recht." Auf den konkreten Vorfall wollte sie nicht eingehen.

Im Dezember hatten der SPIEGEL und Forensic Architecture Videos ausgewertet, die zeigen, wie die illegalen Pushbacks am Evros mutmaßlich ablaufen: Maskierte Männer mit griechischem Akzent bringen Geflüchtete in motorbetriebenen Schlauchbooten auf die türkische Seite des Evros. Oft werden die Flüchtlinge vorher nach eigener Aussage misshandelt, ihre Handys unbrauchbar gemacht.

Alles deutet darauf hin, dass griechische Behörden die Pushbacks systematisch durchführen. Türkische Dokumente, über die der SPIEGEL berichtete, legen nahe, dass Griechenland Zehntausende Migranten und Flüchtlinge illegal abschiebt. Die EU-Kommission forderte nach der Enthüllung eine Untersuchung der Anschuldigungen. Passiert ist bisher nichts.

"Es gibt keine Pushbacks am Evros"
Sprecher der griechischen Polizei


Nur der Ombudsmann, der unabhängig die griechischen Behörden kontrolliert, geht den Pushback-Vorwürfen nach. Die Behörde hat bereits im Juni 2017 eine Untersuchung eingeleitet. Inzwischen untersucht sie mehr als ein halbes Dutzend Fälle, darunter nun auch die vom SPIEGEL veröffentlichten Videos.
Die griechischen Behörden jedoch interessieren sich nicht für die Videos. Ein Sprecher der Polizei sagte dem SPIEGEL im Januar: "Es wird keine Untersuchung geben, weil es keine Pushbacks am Evros gibt."
Ayse Erdogans Fall zeigt, dass das mit sehr großer Wahrscheinlichkeit falsch ist. Er illustriert, wie griechische Grenzer mutmaßlich selbst türkische Asylbewerber ohne Asylverfahren abschieben, obwohl diese in ihrer Heimat aus politischen Gründen verfolgt werden.

Zehntausende Pushbacks? Maskierte griechische Polizisten kontrollieren Migranten nahe der türkischen Grenze. AP/dpa


Die Pushbacks verstoßen gegen Völkerrecht, EU-Recht und griechisches Recht. Denn jeder Flüchtende hat ein Recht auf ein faires Asylverfahren. Wer um Asyl bittet, darf außerdem nicht in Länder zurückgebracht werden, in denen ihm Gefahr oder Verfolgung drohen. Genau das ist bei Ayse Erdogan aber offenbar passiert.  
Bei der Rekonstruktion des Falls hilft, dass Ayse Erdogan ihrem Bruder immer wieder ihren Standort per WhatsApp schickte und mit ihren beiden Begleitern ein Selfie im Dorfzentrum von Nea Vyssa machte. Im Hintergrund ist ein Regierungsgebäude mitsamt Logo zu sehen. Ein weiterer Anwalt, Nikolaos Ouzounidis, hat die Gruppe im Zentrum von Nea Vyssa getroffen. Auch er machte ein Foto von der Gruppe.
Forensic Architecture hat die Bilder, Videos, WhatsApp-Nachrichten, E-Mails, Gerichtsakten und Polizeiberichte analysiert - in Zusammenarbeit mit der griechischen NGO HumanRights360. Die Agentur hat das Material beispielsweise mit Bildern von Google Earth abgeglichen. So konnte erstmals verifiziert werden, dass Ayse Erdogan vor ihrer Verhaftung in der Tat griechischen Boden betreten hatte.
Es besteht kein Zweifel daran, dass Ayse und ihre Begleiter an diesem Tag in Nea Vyssa waren. "Ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen", sagte Anwalt Ouzounidis.

Sehen Sie im Video, wie Forensic Architecture das Material verifiziert hat


Erdogan meldete sich bei der Polizeistation von Nea Vyssa, nahe der türkischen Grenze, um einen Asylantrag zu stellen. Doch die griechischen Polizisten brachten sie zur Polizeistation von Neo Cheimonio, einer Stadt 18 Kilometer südlich von Nea Vyssa. Das geht aus Erdogans WhatsApp-Standorten und ihrer Aussage vor Gericht hervor, die dem SPIEGEL vorliegt. 
Anwalt Ouzounidis versuchte zweimal, Ayse Erdogan dort zu sprechen. Zunächst allein, später gemeinsam mit Erdogans Bruder Ihsan, der inzwischen aus Athen angereist war. Die Polizei wies den Anwalt beide Male zurück. Niemand mit diesem Namen werde auf der Station festgehalten, teilte diese mit. Offiziell gab es keine Verhaftung, keine Anklage. 
Noch um 18.53 Uhr schickte Ayse Erdoğan ihren Standort per WhatsApp an ihren Bruder. Die Nadel zeigte auf die Station der Polizei. Es sollte Ayses letzte Nachricht aus Griechenland sein.
„Ich dachte, Ayse sei in Sicherheit", erzählt Ihsan Erdogan. „Doch auf der Polizeistation ließ man uns einfach abblitzen.“ Ihsan Erdogan erfuhr erst am nächsten Tag von den Eltern, dass seine Schwester in die Türkei deportiert und dort verhaftet wurde.
In den türkischen Gerichtsdokumenten ist festgehalten, wie Ayse Erdogan den Pushback erlebte: Maskierte Männer hätten sie in ein Auto gesetzt und wieder zum Evros gebracht. "Sie setzten uns in ein Schlauchboot und zwangen uns, zum türkischen Ufer zurückzukehren. So konnten wir keinen Asylantrag stellen."
Am nächsten Morgen griffen türkische Polizisten Ayse Erdogan auf. Am Tag darauf wurde sie im Gericht in der Provinz Edirne, nahe der Grenze, verurteilt. Auch die Aufzeichnung der Verhandlung hält fest: "Die Angeklagte verließ das Land über illegale Routen, wurde aber abgeschoben und in die Türkei zurückgeschickt."
Verzweifelte Nachrichten an den Bruder und die Weltöffentlichkeit: Ayse Erdogan

 Forensic Architecture


Zu ihrer Verteidigung brachte Erdogan vor, dass sie sich nach ihrer Freilassung isoliert gefühlt habe. Sie habe keine Arbeit mehr finden können, selbst ihre Freunde hätten nicht mehr mit ihr gesprochen. Vor Gericht sagte Ayse Erdogan, sie bereue ihre Flucht. "Ich bin das Opfer", sagte sie laut Aufzeichnung.
Ihr Bruder Ihsan bestreitet gegenüber dem SPIEGEL, dass er und Ayse der Gülen-Sekte angehörten.
Der türkische Präsident Erdogan macht die Gülen-Bewegung für den Putschversuch im Juli 2016 verantwortlich. Der türkische Staat hat Zehntausende Gülen-Anhänger verhaften lassen.

Militarisierte Zone: Links zwei griechische Wachtürme, rechts ein türkischer
Militarisierte Zone: Links zwei griechische Wachtürme, rechts ein türkischer

 Alkis Konstantinidis/ REUTERS


Gülen selbst bestreitet die Vorwürfe. Der Prediger lebt seit den Neunzigerjahren in den USA im Exil. In der Öffentlichkeit stellt er sich als Reformer dar. Seine Anhänger betreiben Schulen, Universitäten, Medienhäuser, Kliniken und Stiftungen in mehr als hundert Ländern.
Aussteiger beschreiben die Gemeinde hingegen als Geheimbund. "Als Ziel der Unterwanderung staatlicher Stellen sehen alle Gesprächspartner die Maximierung politischen Einflusses und die Erlangung von Kontrolle über den Staat", heißt es in einem Papier aus dem Auswärtigen Amt.
Zehntausende Anhänger der islamistischen Bewegung haben in den vergangenen Jahren in europäischen Staaten Zuflucht gefunden. Mehr als 10.000 Türken haben seit 2016 allein in Griechenland um Asyl gebeten.
Wie viele der Anträge erfolgreich sind, ist unklar. Die griechischen Behörden wollen die Information nicht veröffentlichen. Zu groß ist die Angst, den türkischen Präsidenten Erdogan zu verärgern, mit dem die griechische Regierung ohnehin im Streit liegt.
In Behördenkreisen heißt es, dass die meisten der türkischen Flüchtlinge in Griechenland Asyl bekämen. Darauf hoffte auch Ayse Erdogan. Stattdessen hat der türkische Staat sie nun in ein Gefängnis in der Provinz Gebze in der Nähe von Istanbul gesperrt.



In Griechenland ist eine Klage ihrer Anwälte bereits abgewiesen worden. Die Staatsanwältin habe sich von der griechischen Polizei lediglich versichern lassen, dass Ayse Erdogan nie dort registriert worden sei, sagt Erdogans Anwältin Maria Papamina vom Greek Council for Refugees.


Die Beweise für den Pushback, bemängelt sie, seien gar nicht erst berücksichtigt worden. Die Juristin will nun zunächst in Griechenland in Berufung gehen und durch alle Instanzen klagen. Wenn nötig, bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. 
Ayse Erdogans einzige Chance auf Freiheit aber ist ein Berufungsverfahren vor dem Obersten Gerichtshof der Türkei. Die Chancen sind gering. Viel spricht dafür, dass Ayse Erdogan Jahre in einem türkischen Gefängnis verbringen wird.