Pushbacks an EU-Grenze
Schaffen maskierte Einsatzkräfte im Auftrag Griechenlands heimlich Migranten zurück in die Türkei? Dem SPIEGEL wurden Videos zugespielt, die das nahelegen. Premier Mitsotakis gerät in Erklärungsnot, die Spannungen zwischen den Nato-Partnern nehmen zu.
Immer wieder hat die griechische Regierung bestritten, an der Landgrenze
zur Türkei illegale Pushbacks durchzuführen. Man schaffe keine Schutzsuchenden
am Grenzfluss Evros zurück in die Türkei, ohne ihnen ein faires Asylverfahren
gewährt zu haben, hieß es -auch wenn zahlreiche Flüchtlinge genau das über Jahre hinweg behaupteten.
Jetzt zeigen Videos, die dem SPIEGEL zugespielt wurden und die das
Recherchekollektiv Forensic Architecture ausgewertet hat, zum ersten Mal einen solchen
mutmaßlichen Pushback am Evros. Sechs aktive und ehemalige Polizisten und
Soldaten schilderten dem SPIEGEL zudem übereinstimmend, dass Pushbacks am Evros
systematisch durchgeführt würden.
Das Material besteht aus insgesamt elf Videos. Auf Bildern einer Überwachungskamera,
die auf der türkischen Seite des Evros angebracht ist, sind maskierte Männer in
teilweise militärisch anmutender Kleidung ohne Hoheitszeichen zu sehen. Sie
transportieren Gruppen von Menschen von der griechischen Seite des Grenzflusses
auf die türkische Seite.
Gruppe für Gruppe werden die Menschen in einem kleinen motorbetriebenen
Schlauchboot auf der türkischen Seite der Grenze abgesetzt. Auf den Bildern ist
allerdings nicht zu sehen, wie die maskierten Männer die Mitte des Flusses,
also die Grenze zwischen den beiden Staaten, überqueren. Die Menschen sprechen
verschiedene Sprachen, darunter offenbar unter anderem Paschtunisch, eine
Sprache, die in Afghanistan und Pakistan gesprochen wird. Mit einiger
Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei ihnen um Migranten, die den Evros
heimlich überquert haben, um in Europa Asyl zu beantragen. So machen es viele
Flüchtende, die in den vergangenen Jahren über die östlichen Migrationsrouten
nach Griechenland gelangt sind.
Tödliche Grenze: Der Evros in der Nähe der griechischen Stadt Pythio REUTERS |
Zum Videomaterial gehören außerdem Aufnahmen von einer Handykamera,
mutmaßlich gemacht von einem türkischen Grenzbeamten. Der Mann läuft an das
türkische Evros-Ufer, kurz sieht man im Bild verschiedene andere Menschen,
offenbar gerade angekommene Migranten. Am anderen Ufer ist zu erkennen, wie
maskierte Männer ein Schlauchboot aus dem Wasser ziehen. Der mutmaßliche Soldat
ruft auf Englisch "no deport". Weiter spricht er auf Türkisch von
"griechischen Kräften" und gibt auch an, wo er sich befinde: in der
Nähe des Grenzortes Serem in der westtürkischen Provinz Edirne.
Das Kollektiv Forensic Architecture von der Goldsmiths Universität in
London hat die insgesamt elf Videosequenzen für den SPIEGEL analysiert. Die
Authentizität solcher Videos ist nie restlos belegbar. Ausweislich der
Metadaten der Dateien wurden sie allerdings alle am 17. September 2019 zwischen
ungefähr 10.30 und 12.30 Uhr aufgenommen - das auf den Bildern der
Überwachungskamera angegebene Jahr 2018 ist demnach falsch, abgesehen davon
stimmt das Datum.
Pushbacks verstoßen gegen
das Völkerrecht
Die digitalen Forensiker analysierten unter anderem den Schattenwurf der
Pflanzen und Bäume, die Breite des Flusses, glichen die Daten mit
Satellitenbildern ab und konnten so verifizieren, dass die Videobilder vom
selben Tag und einem einzigen Ort stammen: einer Stelle am Evros-Fluss, die gegenüberliegende
Uferstelle ist nur 2,5 Kilometer von der griechischen Polizeistation im Örtchen
Isaakio entfernt. In unmittelbarer Nähe, nur 300 Meter weiter östlich, befindet
sich ein Wachturm des griechischen Militärs, er ist auf Satellitenbildern erkennbar.
Im Video: So wurden die Filmaufnahmen analysiert und auf Echtheit überprüft
Die maskierten Männer im Video können nicht identifiziert werden. Mehrere
Indizien sprechen allerdings dafür, dass sie zu griechischen Behörden gehören
oder in deren Auftrag handeln:
- Sie fahren einen Pick-up-Truck, einen weißen Nissan Navara. Das Modell benutzen auch griechische Grenzer, nur die Insignien fehlen.
- Die griechische Seite des Evros ist eine militarisierte Zone, die nur wenige Menschen betreten dürfen. Sollten die Videos eine bewusste Inszenierung zeigen, um die griechische Seite in Misskredit zu bringen, wäre dies eine Meisterleistung: Denn es ist nahezu ausgeschlossen, dass eine solche über Stunden andauernde Aktion in dem streng überwachten Gebiet tagsüber ohne Wissen der griechischen Polizei durchgeführt werden kann.
- Männer in Tarnkleidung, die weiße Pick-up-Trucks und Schlauchboote fahren, könnten in der Tat griechische Polizisten sein. So hat es dem SPIEGEL Eva Cossé berichtet, eine Mitarbeiterin der NGO Human Rights Watch. Sie durfte im Mai 2018 die Polizeistationen am Evros besuchen und die Beamten interviewen. Ihr zufolge waren mehrere weiße Pick-up-Trucks ohne Insignien neben einer Polizeistation geparkt. Einer Polizistin zufolge seien die Beamten in Tarnfarben Teil einer Polizeipatrouille, die irreguläre Migranten festnehmen oder davon abhalten sollte, den Evros zu überqueren.
- Einer der maskierten Männer spricht offenbar Englisch mit griechischem Akzent.
Pushbacks sind ein Verstoß gegen das Völkerrecht, sie verletzten sowohl die
EU-Grundrechtecharta als auch die Genfer Konvention - vor allem aus zwei
Gründen: Schutzsuchende haben das Recht auf ein ordentliches Verfahren, in dem
festgestellt wird, ob sie internationalen Schutz benötigen. Sie dürfen nicht
gegen ihren Willen in ein Land zurückgeführt werden, in dem ihre Sicherheit
nicht garantiert ist. Dieses sogenannte Refoulement-Verbot oder Prinzip der
Nichtzurückweisung ist ein Grundsatz des internationalen Völkerrechts zum
Schutz von Flüchtlingen. Auch eine kollektive Ausweisung ohne eine
Einzelfallprüfung des Asylanspruches ist illegal.
Kleidungsstücke, die offenbar von Migranten am Grenzfluss zurückgelassen wurden
Alexandros Avramidis |
Vom SPIEGEL mit den Vorwürfen konfrontiert, teilte der Sprecher der
griechischen Polizei mit, dass die griechische Polizei von dem Vorfall keine
Kenntnis habe. Der griechische Grenzschutz würde stets im Rahmen
"demokratischer Rechtmäßigkeit" durchgeführt, internationale Verträge
würden eingehalten. Das Angebot des SPIEGEL, die Videos anzuschauen, lehnte der
Sprecher ab; die Vorwürfe des SPIEGEL weiter zu verfolgen, sei nicht
erforderlich
Die Videos sind brisant, denn sie sind das bisher belastbarste Indiz für
die Existenz der Pushbacks. Die türkische Regierung hat Athen wiederholt
vorgeworfen, an illegalen Pushbacks am Evros beteiligt zu sein. Die Vorwürfe
sind ein Grund dafür, warum das Verhältnis der beiden Nato-Staaten derzeit so
angespannt ist wie lange nicht.
Aus griechischer Sicht sind die Vorwürfe vor allem heuchlerisch:
Schließlich arbeitet die Türkei gerade daran, selbst Flüchtlinge in das
Bürgerkriegsland Syrien zurückzubringen und hat nach Angaben von
Menschenrechtlern bereits mehrere Hundert Syrer in das Land zurückgeschafft.
Während die Zustände in Hotspot-Lagern auf den griechischen Ägäis-Inseln
immer schlechter werden, kommen auch zunehmend mehr Migranten über den Evros:
Über 14.000 waren es nach UNHCR-Angaben bereits in diesem Jahr. Längst ist in
Griechenland die Stimmung gekippt. Auch deswegen hat die Regierung von Kyriakos
Mitsotakis ihre aktuelle Migrationspolitik verschärft.
Türkei wirft Griechenland
Zehntausende Pushbacks vor
Pushback-Vorwürfe gegen Griechenland gibt es schon lange. Sechs aktive und
ehemalige Sicherheitskräfte sagten dem SPIEGEL übereinstimmend, dass zunächst
jahrelang das Militär die illegalen Abschiebungen übernommen habe, inzwischen
würden diese von der Polizei oder von Zivilisten durchgeführt, die von den
Behörden dazu ermuntert oder nicht davon abgehalten würden. Die Namen der sechs
Informanten veröffentlicht der SPIEGEL aus Gründen des Quellenschutzes nicht.
Zuletzt hatte der SPIEGEL über Dokumente des türkischen Innenministeriums
und der Polizei berichtet, die die Dimension der Pushbacks verdeutlichen. Demnach sollen nach türkischen Angaben allein ab Oktober
2018 innerhalb eines Jahres knapp 60.000 Migranten illegal von der griechischen
Seite zurückgebracht worden sein.
Flüchtlinge kommen in der Nähe des Evros in einem Erstaufnahmelager an
DPA |
Die Vorgehensweise der maskierten Männer in den Videos deckt sich mit den
Schilderungen zahlreicher Migranten, die den gefährlichen Weg über den Evros
gewagt und Menschenrechtsorganisationen von ihren Erlebnissen berichtet hatten.
Demnach werden die Migranten auf der griechischen Seite festgenommen und
eingesperrt, teilweise unter elenden Bedingungen. Dann werden ihnen Handys und
andere Habseligkeiten abgenommen, einige werden geschlagen oder getreten, nach
einiger Zeit werden sie ans Ufer des Evros gefahren und in Booten auf die
andere Seite des Flusses gebracht.
Das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und der Europarat nannten diese Berichte
glaubwürdig und konsistent. Auf der griechischen Insel Samos sprach der SPIEGEL
mit einem 28-jährigen palästinensischen Asylbewerber, der nach eigenen Angaben
von griechischen Beamten oder deren Helfern in die Türkei deportiert worden
ist. Es seien maskierte Männer gewesen, die ihn zurückgebracht hätten, sagte
der Palästinenser.
Zuvor seien ihm nach der Festnahme die Schnürsenkel und sein Handy
abgenommen worden. In der dritten Nacht seiner Gefangenschaft habe die
griechische Polizei sie in einen Truck geladen und zum Ufer des Evros gefahren.
Zwei maskierte Männer hätten ein Schlauchboot gelenkt und ihn und die anderen
Migranten auf die türkische Seite gebracht.
Trotz solcher Berichte konnte die griechische Polizei jedoch bei internen
Ermittlungen nach eigenen Angaben nie ein Fehlverhalten feststellen. Zuletzt
hatte auch Griechenlands Premier Kyriakos Mitsotakis auf einen SPIEGEL-Bericht
zu Pushbacks reagiert. Er habe keine Informationen von den zuständigen
Behörden, die auf solche Praktiken hindeuteten, sagte er dem"Handelsblatt"
Durch die neuerlichen Indizien und Enthüllungen dürfte diese Behauptung
immer schwerer zu halten sein.
Im Video: Warum Push-Back ein schlecht gehütetes Geheimnis sind
12/12/2019