Rekonstruktion des Falls Muhammad Gulzar
Ein Pakistaner stirbt beim Versuch, den Grenzzaun zwischen der Türkei und Griechenland zu überwinden. Nun zeigen Recherchen des SPIEGEL, dass er wohl von griechischen Soldaten erschossen wurde.
SPIEGEL
Am 4. März werden an der türkisch-griechischen Grenze vier Migranten innerhalb von vier Minuten angeschossen. BULENT KILIC/ AFP |
Die Landgrenze zwischen Griechenland und der Türkei ist 212 Kilometer lang. Sie verläuft größtenteils entlang des Flusses Evros. Lediglich im Norden, im Dreieck von -Karaağaç, sind die beiden Staaten auf elf Kilometern durch einen Zaun getrennt.
Anfang März, kurz bevor Corona zum alles beherrschenden Thema wird, schaut die Welt auf diesen Zaun.
Auf der türkischen Seite der Grenze drängen sich Tausende Migrantinnen und Migranten. Auf der griechischen Seite haben sich Sicherheitskräfte in Stellung gebracht. Tränengas liegt in der Luft. Hubschrauber kreisen über dem Gebiet, Menschen brüllen wild durcheinander.
Muhammad Gulzar, 42, hat schlecht geschlafen. Er wacht am 4. März hungrig auf, so wird es später seine Frau Saba Khan, 38, erzählen. Khan würde an diesem Morgen am liebsten nach Istanbul zurückkehren, von wo das Ehepaar aufgebrochen war, in der Hoffnung, es nach Europa zu schaffen. Gulzar trotzt seiner Frau ein Zugeständnis ab: Einmal noch würden sie versuchen, den Zaun zu überwinden. Kurz darauf ist Gulzar tot, ein Schuss hat ihn in den Brustkorb getroffen.
Gulzar liegt am Boden: "Steh auf, steh auf!" (Bild: Forensic Architecture, Lighthouse Reports, Bellingcat)
Einige Tage später sitzt Saba Khan in einem Restaurant in Istanbul. Sie hat ihr Gesicht in den Händen vergraben. An ihrem Handgelenk die Uhr, die ihr Mann ihr geschenkt hat. Muhammad Gulzar und Saba Khan, beide aus Pakistan, haben erst am 21. Januar geheiratet. Jetzt ist Khan verzweifelt: Wäre Muhammad noch am Leben, wenn sie darauf bestanden hätte umzudrehen?
Die Weltöffentlichkeit hat das Drama längst vergessen, das sich in der ersten Märzwoche im türkisch-griechischen Grenzgebiet zutrug. Saba Khan aber kann nicht vergessen. Genauso wenig wie die anderen Familien vergessen können, die in den Chaostagen im März Angehörige verloren haben. Mindestens zwei Menschen sind bei dem Versuch, die Grenze nach Griechenland zu überwinden, ums Leben gekommen, Dutzende wurden verletzt, zum Teil schwer. Bis heute ist nicht geklärt, wer dafür verantwortlich ist.
Zwischen der Türkei und Griechenland ist ein Propagandakrieg entbrannt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan behauptet, griechische Sicherheitskräfte hätten gezielt auf Migranten geschossen, was die griechische Regierung bestreitet.
DER SPIEGEL
SPIEGEL-Reporter haben gemeinsam mit den Rechercheteams Forensic
Architecture, Lighthouse Reports und Bellingcat wochenlang auf beiden Seiten
der Grenze recherchiert, mehr als zwei Dutzend Augenzeugen befragt, Flüchtlinge,
Grenzschützerinnen, Politiker, Ärzte. Sie werteten offizielle Dokumente aus,
darunter den Autopsiebericht von Muhammad Gulzar. Die Analysten haben mehr als
100 Videos und Fotos gesichtet, die Migrantinnen und Migranten an der Grenze
aufgenommen haben.
Die Ergebnisse der Recherche widersprechen den offiziellen Darstellungen,
gerade den griechischen, in entscheidenden Punkten. Der Tod von Muhammad Gulzar
war vermutlich ein Unglück. Doch ein Unglück mit Ansage. Eine Rekonstruktion
der Ereignisse rund um den 4. März liest sich wie das Drehbuch einer
Eskalation, die beide Seiten willentlich herbeiführten.
Die Erpressung
Bei einem Angriff auf einen Militärposten in der syrischen Provinz Idlib am 27. Februar töten mutmaßlich russische Kampfjets mindestens 33 türkische Soldaten. Die türkischen Behörden sperren Facebook und Twitter, doch lange lässt sich die Nachricht nicht unterdrücken. Erdoğan beruft eine Krisensitzung ein, an deren Ende eine überraschende Entscheidung steht: Die Türkei öffnet ihre Grenzen nach Europa.
Erdoğan will mit dem öffentlichkeitswirksamen Bruch des EU-Flüchtlingsdeals wohl von den Problemen seines Militärs in Syrien ablenken - und zugleich von den Europäern mehr Geld für die Versorgung von Geflüchteten in der Türkei erpressen. Und tatsächlich, in den nächsten Tagen wird kaum jemand mehr über die türkischen Verluste in Idlib sprechen.
Busse bringen die Migranten von Istanbul an die griechische Grenze. Omer Kuscu/ dpa
Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 diente der Busbahnhof im Istanbuler Stadtteil Aksaray als Drehkreuz nach Europa. Nun drängen hier erneut Flüchtlinge in die Busse. Über Facebook und WhatsApp hat sich die Nachricht verbreitet, dass die Tore nach Europa offen stünden. Mehr als 10 000 Migranten machen sich auf den Weg. Zum Teil chartern die türkischen Behörden selbst Busse, um Menschen an die Grenze zu bringen.
Auch der Pakistaner Gulzar und seine Frau nehmen in Istanbul einen der Busse an die Grenze. Es ist nicht das erste Mal, dass Gulzar nach Europa aufbricht. 2007 war er nach Griechenland gekommen, dort hatte er jahrelang gelebt, die meiste Zeit mit einer Duldung, zunächst allein, später mit seinem ältesten Sohn. Seine damalige Frau und vier Kinder blieben in Pakistan zurück. Gulzar reparierte Kamine in griechischen Häusern. Sein letzter Chef Nikolaos Tsokanis beschreibt ihn als ehrlichen und arbeitsamen Menschen.
Das letzte gemeinsame Foto von Saba Khan und
Muhammad Gulzar privat
|
Beruflich lief es gut für Gulzar, privat fehlte ihm etwas. Er war verheiratet, aber seine wahre Liebe, Saba Khan, lebte in Pakistan. Er beschloss, sich von seiner Frau zu trennen und nach Pakistan zu reisen, um Khan zu heiraten. Tsokanis sagt, er habe Gulzar gebeten zu warten, bis Khan eine offizielle Einreisegenehmigung bekomme. Doch das hätte Monate gedauert, die beiden hätten nicht so lange warten wollen. "Ich habe es schon mal nach Europa geschafft", soll Gulzar gesagt haben. "Ich schaffe es auch diesmal."
Gulzar flog von Griechenland nach Pakistan. Am 21. Januar heirateten er und Khan. Wenige Tage später reiste das Brautpaar über Iran in die Türkei. Für ihre Zukunft in Griechenland hatten sie große Pläne. Saba Khan wollte als Friseurin arbeiten, vielleicht sogar einen Schönheitssalon eröffnen. Nur die griechischen Grenzschützer standen ihnen noch im Weg.
"Ich habe es schon einmal
nach Europa geschafft.
Ich schaffe es auch diesmal."
Kyriakos Mitsotakis ist erst seit einem Dreivierteljahr Premier Griechenlands, doch schon jetzt überschattet die Flüchtlingskrise seine Amtszeit. Auf den griechischen Inseln leben Migrantinnen und Migranten in überfüllten Lagern. Immer wieder kommt es zu Gewalt gegen Geflüchtete. Mitsotakis weiß, dass das Asylsystem endgültig zusammenbrechen würde, sollten die Flüchtlingszahlen noch einmal sprunghaft ansteigen. Und genau damit muss er seit der Grenzöffnung durch Erdoğan rechnen.
In seiner Not setzt Mitsotakis das Asylrecht am 1. März für einen Monat aus, was Juristen später als Rechtsbruch werten werden. Er schickt 1000 Soldaten und 1000 Polizisten als Verstärkung in den Norden.
Das Schlachtfeld
Muhammad Gulzar und Saba Khan haben Erdoğans Beteuerungen geglaubt, wonach die Grenze offenstünde. Doch was sie bei ihrer Ankunft in Pazarkule vorfinden, ist ein Schlachtfeld. Tausende Menschen campieren im Freien. Griechische Sicherheitskräfte gehen mit Tränengas und Wasserwerfern gegen Schutzsuchende vor.
Wenn sie geahnt hätten, was sie an der Grenze erwartet, wären sie niemals in den Bus gestiegen, sagt Saba Khan. Dann hätten sie versucht, mit einem Boot auf eine griechische Insel zu gelangen. Nun aber stecken sie im Grenzgebiet fest. Um den Druck auf die Europäer aufrechtzuerhalten, hindern türkische Gendarmen die Flüchtlinge in Pazarkule daran, nach Istanbul zurückzukehren.
Das Grenzgebiet verwandelt sich in eine Todeszone. Emrah Gurel/ AP |
Die Migranten werden zunehmend verzweifelter, manche werfen mit Steinen auf griechische Grenzschützer. Nach Informationen des Bundesnachrichtendienstes sollen sich auch türkische Agenten als Provokateure in die Menschenmenge gemischt haben. Und die Griechen wehren sich offensichtlich gegen den Andrang, und zwar nicht nur mit Wasserwerfern und Tränengas: Mehrere Flüchtlinge schildern dem SPIEGEL, von griechischen Sicherheitskräften beschossen worden zu sein.
Ein Syrer sagt, dass seine Frau vermisst werde, seit griechische Grenzschützer die Familie am 29. Februar beim Überqueren des Grenzflusses Evros gestoppt hätten. Mehrmals hätten die griechischen Beamten geschossen und ihn mit Gewalt von seiner Frau getrennt. Ein weiterer Syrer, Mohammad al-Arab, starb am 2. März am Evros, mehr als 80 Kilometer südlich vom Grenzposten Pazarkule. Die Rechercheagentur Forensic Architecture kommt aufgrund von Videoanalysen zu dem Ergebnis, dass al-Arab erschossen wurde. Zwei Augenzeugen geben an, dass griechische Soldaten das Feuer eröffnet hätten.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reist in das Krisengebiet. Erstmals seit vier Jahren kann die EU nicht mehr darauf bauen, dass Erdoğan die Flüchtlinge aufhält. Jetzt ist Griechenland der "Schild" Europas, wie von der Leyen sagt. Über die Gewaltvorwürfe gegen griechische Sicherheitskräfte verliert sie kein Wort.
Der SPIEGEL trifft Hantou einen Tag später im Krankenhaus von Edirne. Sein Bruder Riad ist bei ihm, am rechten Ohr trägt Hantou einen Verband. Zwei Schrotkugeln hätten ihn dort getroffen, eine habe einen Knochen hinter dem Ohr zerstört, sagt er. So hätten es ihm die Ärzte erklärt. Griechische Sicherheitskräfte, da ist sich Hantou sicher, hätten an diesem Tag auf ihn geschossen.Vom Grenzposten bis zur Universitätsklinik von Edirne sind es nur 14 Kilometer. Eine halbe Stunde nachdem Gulzar von der Kugel getroffen wurde, liefern ihn die Notärzte dort ein. Die Ärzte versuchen, ihn zu reanimieren, vergebens. 45 Minuten später wird er für tot erklärt.
Khan schluchzt und schreit,
ihren Kopf schlägt sie gegen
ein Auto, immer wieder.
Als Saba Khan davon erfährt, bricht sie auf dem Gehweg neben dem Krankenhaus zusammen. So zeigen es Aufnahmen eines Kamerateams des TV-Senders CNN. Khan schluchzt und schreit, ihren Kopf schlägt sie gegen ein Auto, immer wieder. Bis zuletzt, sagt sie später, habe sie daran geglaubt, dass Gulzar überlebe.
Die griechische Regierung weist auf Nachfrage des SPIEGEL sämtliche Vorwürfe pauschal als "türkische Propaganda" zurück. Griechenland habe das "Recht, seine Grenzen zu schützen", heißt es in einem schriftlichen Statement.
Die EU-Staaten haben ihre Migrationspolitik seit 2015 verschärft. Sie haben Rettungsmissionen im Mittelmeer eingestellt, Gulzars Tod stellt trotzdem eine Zäsur dar. Hier haben Grenzschützer Hilfe nicht nur unterlassen. Sie wurden aller Wahrscheinlichkeit nach selbst zu Tätern.
Es ist durchaus möglich, dass Gulzar aus Versehen erschossen, dass er von einem Querschläger getroffen wurde. Es wäre die Verantwortung der Behörden, genau das in Erfahrung zu bringen. Indem die griechische Regierung sämtliche Berichte über Angriffe auf Migranten als türkische Propaganda abtut, macht sie eine Aufklärung des Sachverhalts jedoch unmöglich.
Saba Khan wischt in dem Restaurant in Istanbul durch die Fotos auf ihrem Handy. Sie hat eine Anwältin beauftragt, den Fall weiterzuverfolgen, notfalls bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Richter sollen schaffen, was die Politik verweigert: Gerechtigkeit für Muhammad Gulzar.
Mitarbeit: Usman Mahar
8/5/2020