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Παρασκευή 12 Ιουνίου 2020

[DE] DER TODESSCHUSS AN EUROPAS GRENZE

Rekonstruktion des Falls Muhammad Gulzar

Ein Pakistaner stirbt beim Versuch, den Grenzzaun zwischen der Türkei und Griechenland zu überwinden. Nun zeigen Recherchen des SPIEGEL, dass er wohl von griechischen Soldaten erschossen wurde.


SPIEGEL

Am 4. März werden an der türkisch-griechischen Grenze vier Migranten innerhalb von vier Minuten angeschossen.
 BULENT KILIC/ AFP
Die Landgrenze zwischen Griechenland und der Türkei ist 212 Kilometer lang. Sie verläuft größtenteils entlang des Flusses Evros. Lediglich im Norden, im Dreieck von -Karaağaç, sind die beiden Staaten auf elf Kilometern durch einen Zaun getrennt.

Anfang März, kurz bevor Corona zum alles beherrschenden Thema wird, schaut die Welt auf diesen Zaun.

Auf der türkischen Seite der Grenze drängen sich Tausende Migrantinnen und Migranten. Auf der griechischen Seite haben sich Sicherheitskräfte in Stellung gebracht. Tränengas liegt in der Luft. Hubschrauber kreisen über dem Gebiet, Menschen brüllen wild durcheinander.

Muhammad Gulzar, 42, hat schlecht geschlafen. Er wacht am 4. März hungrig auf, so wird es später seine Frau Saba Khan, 38, erzählen. Khan würde an diesem Morgen am liebsten nach Istanbul zurückkehren, von wo das Ehepaar aufgebrochen war, in der Hoffnung, es nach Europa zu schaffen. Gulzar trotzt seiner Frau ein Zugeständnis ab: Einmal noch würden sie versuchen, den Zaun zu überwinden. Kurz darauf ist Gulzar tot, ein Schuss hat ihn in den Brustkorb getroffen.

Gulzar liegt am Boden: "Steh auf, steh auf!" (Bild: Forensic Architecture, Lighthouse Reports, Bellingcat)


Einige Tage später sitzt Saba Khan in einem Restaurant in Istanbul. Sie hat ihr Gesicht in den Händen vergraben. An ihrem Handgelenk die Uhr, die ihr Mann ihr geschenkt hat. Muhammad Gulzar und Saba Khan, beide aus Pakistan, haben erst am 21. Januar geheiratet. Jetzt ist Khan verzweifelt: Wäre Muhammad noch am Leben, wenn sie darauf bestanden hätte umzudrehen?

Die Weltöffentlichkeit hat das Drama längst vergessen, das sich in der ersten Märzwoche im türkisch-griechischen Grenz­gebiet zutrug. Saba Khan aber kann nicht vergessen. Genauso wenig wie die anderen Familien vergessen können, die in den Chaostagen im März Angehörige verloren haben. Mindestens zwei Menschen sind bei dem Versuch, die Grenze nach Griechenland zu überwinden, ums Leben gekommen, Dutzende wurden verletzt, zum Teil schwer. Bis heute ist nicht geklärt, wer dafür verantwortlich ist.

Zwischen der Türkei und Griechenland ist ein Propagandakrieg entbrannt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan behauptet, griechische Sicherheitskräfte hätten gezielt auf Migranten geschossen, was die griechische Regierung bestreitet.

DER SPIEGEL


SPIEGEL-Reporter haben gemeinsam mit den Rechercheteams Forensic Architecture, Lighthouse Reports und Bellingcat wochenlang auf beiden Seiten der Grenze recherchiert, mehr als zwei Dutzend Augenzeugen befragt, Flücht­linge, Grenzschützerinnen, Politiker, Ärzte. Sie werteten offizielle Dokumente aus, darunter den Autopsiebericht von Muhammad Gulzar. Die Analysten haben mehr als 100 Videos und Fotos gesichtet, die Migrantinnen und Migranten an der Grenze aufgenommen haben.

Die Ergebnisse der Recherche widersprechen den offiziellen Darstellungen, gerade den griechischen, in entscheidenden Punkten. Der Tod von Muhammad Gulzar war vermutlich ein Unglück. Doch ein Unglück mit Ansage. Eine Rekonstruktion der Ereignisse rund um den 4. März liest sich wie das Drehbuch einer Eskalation, die beide Seiten willentlich herbeiführten.

Die Erpressung

Bei einem Angriff auf einen Militärposten in der syrischen Provinz Idlib am 27. Februar töten mutmaßlich russische Kampfjets mindestens 33 türkische Soldaten. Die türkischen Behörden sperren Facebook und Twitter, doch lange lässt sich die Nachricht nicht unterdrücken. Erdoğan beruft eine Krisensitzung ein, an deren Ende eine überraschende Entscheidung steht: Die Türkei öffnet ihre Grenzen nach Europa. 

Erdoğan will mit dem öffentlichkeitswirksamen Bruch des EU-Flüchtlingsdeals wohl von den Problemen seines Militärs in Syrien ablenken - und zugleich von den Europäern mehr Geld für die Versorgung von Geflüchteten in der Türkei erpressen. Und tatsächlich, in den nächsten Tagen wird kaum jemand mehr über die türkischen Verluste in Idlib sprechen.

Busse bringen die Migranten von Istanbul an die griechische Grenze. Omer Kuscu/ dpa


Auf dem Höhepunkt der Flüchtlings­krise 2015 diente der Busbahnhof im Istan­buler Stadtteil Aksaray als Drehkreuz nach Europa. Nun drängen hier erneut Flüchtlinge in die Busse. Über Facebook und WhatsApp hat sich die Nachricht verbreitet, dass die Tore nach Europa offen stünden. Mehr als 10 000 Migranten machen sich auf den Weg. Zum Teil chartern die türkischen Behörden selbst Busse, um Menschen an die Grenze zu bringen.
Auch der Pakistaner Gulzar und seine Frau nehmen in Istanbul einen der Busse an die Grenze. Es ist nicht das erste Mal, dass Gulzar nach Europa aufbricht. 2007 war er nach Griechenland gekommen, dort hatte er jahrelang gelebt, die meiste Zeit mit einer Duldung, zunächst allein, später mit seinem ältesten Sohn. Seine damalige Frau und vier Kinder blieben in Pakistan zurück. Gulzar reparierte Kamine in griechischen Häusern. Sein letzter Chef Nikolaos Tsokanis beschreibt ihn als ehrlichen und arbeitsamen Menschen.
Das letzte gemeinsame 
Foto von Saba Khan und 
Muhammad Gulzar privat
Beruflich lief es gut für Gulzar, privat fehlte ihm etwas. Er war verheiratet, aber seine wahre Liebe, Saba Khan, lebte in Pakistan. Er beschloss, sich von seiner Frau zu trennen und nach Pakistan zu reisen, um Khan zu heiraten. Tsokanis sagt, er habe Gulzar gebeten zu warten, bis Khan eine offizielle Einreisegenehmigung bekomme. Doch das hätte Monate gedauert, die beiden hätten nicht so lange warten wollen. "Ich habe es schon mal nach Europa geschafft", soll Gulzar gesagt haben. "Ich schaffe es auch diesmal." 
Gulzar flog von Griechenland nach Pakistan. Am 21. Januar heirateten er und Khan. Wenige Tage später reiste das Brautpaar über Iran in die Türkei. Für ihre Zukunft in Griechenland hatten sie große Pläne. Saba Khan wollte als Friseurin arbeiten, vielleicht sogar einen Schönheitssalon eröffnen. Nur die griechischen Grenzschützer standen ihnen noch im Weg.


"Ich habe es schon einmal 
nach Europa geschafft. 
Ich schaffe es auch diesmal."
Muhammad Gulzar

Kyriakos Mitsotakis ist erst seit einem Dreivierteljahr Premier Griechenlands, doch schon jetzt überschattet die Flüchtlingskrise seine Amtszeit. Auf den griechischen Inseln leben Migrantinnen und Migranten in überfüllten Lagern. Immer wieder kommt es zu Gewalt gegen Geflüchtete. Mitsotakis weiß, dass das Asylsystem endgültig zusammenbrechen würde, sollten die Flüchtlingszahlen noch ­einmal sprunghaft ansteigen. Und genau damit muss er seit der Grenzöffnung durch Erdoğan rechnen.
In seiner Not setzt Mitsotakis das Asylrecht am 1. März für einen Monat aus, was Juristen später als Rechtsbruch werten werden. Er schickt 1000 Soldaten und 1000 Polizisten als Verstärkung in den Norden.

Das Schlachtfeld

Muhammad Gulzar und Saba Khan haben Erdoğans Beteuerungen geglaubt, wonach die Grenze offenstünde. Doch was sie bei ihrer Ankunft in Pazarkule vorfinden, ist ein Schlachtfeld. Tausende Menschen campieren im Freien. Griechische Sicherheitskräfte gehen mit Tränengas und Wasserwerfern gegen Schutzsuchende vor.
Wenn sie geahnt hätten, was sie an der Grenze erwartet, wären sie niemals in den Bus gestiegen, sagt Saba Khan. Dann hätten sie versucht, mit einem Boot auf eine griechische Insel zu gelangen. Nun aber stecken sie im Grenzgebiet fest. Um den Druck auf die Europäer aufrechtzuerhalten, hindern türkische Gendarmen die Flüchtlinge in Pazarkule daran, nach Istanbul zurückzukehren. 
Das Grenzgebiet verwandelt sich in eine Todeszone.
 Emrah Gurel/ AP
Die Migranten werden zunehmend verzweifelter, manche werfen mit Steinen auf griechische Grenzschützer. Nach Informationen des Bundesnachrichtendienstes sollen sich auch türkische Agenten als Provokateure in die Menschenmenge gemischt haben. Und die Griechen wehren sich offensichtlich gegen den Andrang, und zwar nicht nur mit Wasserwerfern und Tränengas: Mehrere Flüchtlinge schildern dem SPIEGEL, von griechischen Sicherheitskräften beschossen worden zu sein.
Ein Syrer sagt, dass seine Frau vermisst werde, seit griechische Grenzschützer die Familie am 29. Februar beim Überqueren des Grenzflusses Evros gestoppt hätten. Mehrmals hätten die griechischen Beamten geschossen und ihn mit Gewalt von seiner Frau getrennt. Ein weiterer Syrer, Mohammad al-Arab, starb am 2. März am Evros, mehr als 80 Kilometer südlich vom Grenzposten Pazarkule. Die Rechercheagentur Forensic Architecture kommt aufgrund von Videoanalysen zu dem Ergebnis, dass al-Arab erschossen wurde. Zwei Augenzeugen geben an, dass griechische Soldaten das Feuer eröffnet hätten.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reist in das Krisengebiet. Erstmals seit vier Jahren kann die EU nicht mehr darauf bauen, dass Erdoğan die Flüchtlinge aufhält. Jetzt ist Griechenland der "Schild" Europas, wie von der Leyen sagt. Über die Gewaltvorwürfe gegen griechische Sicherheitskräfte verliert sie kein Wort.
Die griechische Regierung schickt Elite-Soldaten an die Grenze zur Türkei.
Dimitris Tosidis/ EPA-EFE/ REX


Elias Tzimitras wird immer dann gerufen, wenn Gefahr droht. Er ist Teil einer Spezialeinheit der griechischen Streit­kräfte, den die Militärführung an die griechisch-türkische Grenze verlegt hat.
Die griechischen Sicherheitskräfte sind in zwei Linien organisiert. Vorn stehen die Polizisten mit Schilden, Schlagstöcken und Pistolen. Dahinter warten die Soldaten mit Schnellfeuergewehren. Tzimitras und seine Männer.
Als Offizier ist es Tzimitras verboten, mit Medien zu sprechen. Sein echter Name, sein Rang und der Name seiner Einheit müssen deshalb geheim bleiben. Die Lage an der Grenze sei extrem angespannt gewesen, berichtet Tzimitras. Er und seine Kameraden hätten Angst gehabt, gekidnappt zu werden, unter den Migranten ­seien auch bewaffnete Männer gewesen. Tzimitras und seine Kameraden schoben tage- und nächtelang Schichten. Permanent seien sie Provokationen türkischer Soldaten ausgesetzt gewesen.
Die Regierung in Athen bestreitet, dass griechische Sicherheitskräfte scharfe Munition eingesetzt hätten. Tzimitras widerspricht dieser Darstellung. "Wir haben ­sowohl mit Platzpatronen als auch mit scharfer Munition geschossen", sagt er. Es habe sich dabei jedoch lediglich um Warnschüsse in die Luft oder auf den ­Boden gehandelt. Die Erlaubnis dazu sei ihnen von der Militärführung erteilt ­worden.
Videos zeigen, wie an der Grenze scharf geschossen wird. (Bild: Forensic Architecture, Lighthouse Reports, Bellingcat)
Auch Videos, die die Forensiker ausgewertet haben, belegen, dass am 4. März mit scharfer Munition geschossen wurde. Ein Video, gefilmt von der türkischen Seite der Grenze, veröffentlicht unter anderem vom türkischen Staatssender TRT, zeigt ein Feuer am Grenzzaun. Dann fallen Schüsse, ein junger Mann sackt zusammen.
Der Mann, der die verwackelten Bilder filmt, ruft auf Englisch: "Waffenfeuer von der griechischen Armee … Ich habe jemanden gesehen, der angeschossen wurde." Migranten fliehen vom Zaun, wenig später tauchen Männer hinter dem Feuer am Zaun auf, offenbar handelt es sich um ­griechische Soldaten.
Auf einem Video von der griechischen Seite hört man dieselbe Schussfolge. Außerhalb des Kamerawinkels unterhalten sich zwei Griechen. "Sie haben gezielt", sagt die erste Person. "Sie haben gezielt", bestätigt die zweite. "Das ist der einzige Weg ..."
Im Video lassen sich die charakteristischen Geräusche scharfer Munition herausfiltern: zunächst ein Knacken, das die Stoßwelle des Projektils erzeugt, dann der Lärm des Mündungsknalls. Bei Platz­patronen wäre nur der Mündungsknall zu hören.
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"Bitte! Nicht schießen!"
Steven Beck, ein US-Waffenexperte, der die Aufnahmen überprüft hat, ist sicher, dass es sich bei den Schüssen, die im Video zu hören sind, um scharfe Munition handelt. Die Intervalle zwischen den Schüssen deuten seiner Analyse nach darauf hin, dass es sich um eine halbautomatische Waffe handelt. Der Schütze habe rund 40 bis 60 Meter von der Kamera entfernt gestanden. In sämtlichen verfüg­baren Videos lassen sich nur auf der griechischen Seite Personen ausmachen, die in einem Umkreis von 60 Metern stehen und entsprechende Waffen tragen.

Der Schuss

Als Muhammad Gulzar und Saba Khan nach einer unruhigen Nacht aufwachen, sind am Grenzposten schon die ersten Kämpfe ausgebrochen. Tränengas liegt in der Luft. Khan kann kaum atmen.
Gulzar trägt an diesem Tag eine schwarze Jacke, eine blaue Jeans mit Löchern und schwarze knöchelhohe Stiefel mit ­einem Reißverschluss. Er nimmt die Hand seiner Frau, gemeinsam marschieren sie Richtung Zaun. Über einen Lautsprecher warnen griechische Grenzer: "Versucht nicht, die Grenze zu überschreiten." Khan beobachtet, wie ein Mann ein Loch in den Zaun schneidet. Nur wenige Meter von den ­beiden entfernt. Teilweise nutzen die Mi­granten Bolzenschneider, die ihnen wohl türkische Gendarmen ausgehändigt haben.
Soldaten mit Waffen am Grenzzaun. (Bild: Forensic Architecture, Lighthouse Reports, Bellingcat)

Die griechischen Soldaten stehen parallel zum Zaun, zwischen den Männern liegen einige wenige Meter. Sie tragen Atemschutzmasken und Schnellfeuergewehre. Alle paar Minuten sind Schüsse zu hören, auch aus automatischen Waffen. Trotzdem versuchen Männer weiter, den Zaun zu durchbrechen. Eine Gruppe von Migranten trägt den ersten Verletzten davon. Mit dem Arm hält der Mann sich die linke Gesichtshälfte. Seine Beine haben die Mi­granten in eine Decke gelegt, sodass sie ihn besser transportieren können. Als sie die Straße erreichen, heben sie den Verletzten in einen türkischen Krankenwagen.
Muhammad Gulzar und Saba Khan stehen nicht weit vom Grenzzaun entfernt. Gulzar redet auf Griechisch auf die Sicherheitskräfte ein. Er habe sich gerade weggedreht, sagt Khan, als der tödliche Schuss gefallen sei. Mit der Hand auf der Brust sei ihr Mann zusammengebrochen. "Steh auf", habe sie geschrien, "steh auf."
"Sie haben ihn getötet, heb ihn hoch!"
"Der Schuss kam mit Sicherheit von der griechischen Seite", sagt Khan. Sie selbst sei von einem Schuss beinahe am Fuß getroffen worden.
Auf einem Video ist zu erkennen, wie Menschen zu dem verletzten Gulzar eilen. Sein Gesicht ist verdeckt. Die Stiefel mit dem Reißverschluss, das Muster der zerrissenen blauen Jeans und die schwarze Jacke lassen aber keinen Zweifel, dass es Gulzar ist, der dort auf dem Boden liegt.
"Sie haben ihn getötet, heb ihn hoch!", rufen die Migranten auf Arabisch. Sie ziehen ihm das Shirt und die Jacke hoch. Im Laufschritt tragen sie Gulzar Richtung Straße zu den Krankenwagen.
Der SPIEGEL hat mit zwei der Migranten gesprochen, die das Geschehen an diesem Tag gefilmt haben. Beide geben an, dass Gulzar von der griechischen Seite aus erschossen worden sei. Einer der Männer, Sobhi, sagt, ein Soldat habe Gulzar mit einem Schnellfeuergewehr erschossen. In einem Video ist Sobhi kurz nach dem Vorfall zu sehen. Er sagt: "Da ist ein Pakistani, dem mit scharfer Munition in die Schulter geschossen wurde. Am Zaun, der Krankenwagen hat ihn gerade mitgenommen."


Migranten versuchen mit aller Macht, den Grenzzaun zu durchbrechen.
MARKO DJURICA/ REUTERS


Bilder des griechischen Fernsehsenders Skai zeigen griechische Soldaten entlang des Zauns, nahe jener Stelle, an der Gulzar erschossen wurde. Sie tragen Schnellfeuer­gewehre der Typen FN Minimi, M4 und M16, die Waffen feuern Projektile des ­Kalibers 5,56 Millimeter. Laut dem Autopsiebericht des Istanbuler Instituts für Gerichtsmedizin, der dem SPIEGEL vorliegt, wurde genau ein solches Projektil in Gulzars Körper gefunden.
Das Knattern automatischer Waffen nimmt kein Ende. Handykameras fangen die Geräusche auf, mehr und mehr Migran­ten filmen jetzt. Einige Menschen fliehen in Panik vom Zaun. Innerhalb von vier Minuten werden vier verletzte Männer ­weggetragen, 14 Minuten später ein fünfter. Einige von ihnen weisen Schuss­wunden auf.
Einer der Verletzten lässt sich zweifelsfrei identifizieren. Er heißt Mohammad Hantou. Videos zeigen ihn, wie er über das Feld stolpert, mit einer Hand hält er sich den Kopf. Als er hinfällt, helfen ihm Kameraden auf und stützen ihn.
Mohammad Hantou flieht vom Grenzzaun.
(Bild: Forensic Architecture, Lighthouse Reports, 
Bellingcat) 
Der SPIEGEL trifft Hantou einen Tag später im Krankenhaus von Edirne. Sein Bruder Riad ist bei ihm, am rechten Ohr trägt Hantou einen Verband. Zwei Schrotkugeln hätten ihn dort getroffen, eine habe einen Knochen hinter dem Ohr zerstört, sagt er. So hätten es ihm die Ärzte erklärt. Griechische Sicherheitskräfte, da ist sich Hantou sicher, hätten an diesem Tag auf ihn geschossen.

V
om Grenzposten bis zur Universitätsklinik von Edirne sind es nur 14 Kilometer. Eine halbe Stunde nachdem Gulzar von der Kugel getroffen wurde, liefern ihn die Notärzte dort ein. Die Ärzte versuchen, ihn zu reanimieren, vergebens. 45 Minuten später wird er für tot erklärt. 
Khan schluchzt und schreit,
ihren Kopf schlägt sie gegen 
ein Auto, immer wieder.


Als Saba Khan davon erfährt, bricht sie auf dem Gehweg neben dem Krankenhaus zusammen. So zeigen es Aufnahmen eines Kamerateams des TV-Senders CNN. Khan schluchzt und schreit, ihren Kopf schlägt sie gegen ein Auto, immer wieder. Bis zuletzt, sagt sie später, habe sie daran geglaubt, dass Gulzar überlebe.
Die griechische Regierung weist auf Nachfrage des SPIEGEL sämtliche Vorwürfe pauschal als "türkische Propaganda" zurück. Griechenland habe das "Recht, seine Grenzen zu schützen", heißt es in einem schriftlichen Statement.
Die EU-Staaten haben ihre Migrationspolitik seit 2015 verschärft. Sie haben Rettungsmissionen im Mittelmeer eingestellt, Gulzars Tod stellt trotzdem eine Zäsur dar. Hier haben Grenzschützer Hilfe nicht nur unterlassen. Sie wurden aller Wahrscheinlichkeit nach selbst zu Tätern.

Es ist durchaus möglich, dass Gulzar aus Versehen erschossen, dass er von einem Querschläger getroffen wurde. Es wäre die Verantwortung der Behörden, genau das in Erfahrung zu bringen. Indem die griechische Regierung sämtliche Berichte über Angriffe auf Migranten als türkische Propaganda abtut, macht sie eine Aufklärung des Sachverhalts jedoch unmöglich. 
Saba Khan wischt in dem Restaurant in Istanbul durch die Fotos auf ihrem Handy. Sie hat eine Anwältin beauftragt, den Fall weiterzuverfolgen, notfalls bis vor den ­Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Richter sollen schaffen, was die Politik verweigert: Gerechtigkeit für Muhammad Gulzar. 

Mitarbeit: Usman Mahar



8/5/2020