Debatte um Abschottung
Sollte es sich bei Horst Seehofers Flüchtlingspolitik tatsächlich um ein Theaterstück handeln, wie dies von Seiten der SPD gemutmaßt wird, dann hätte dieses Stück etwas unfreiwillig Komisches. "Die Herausforderungen weltweiter Migration erfordern ein System der Ordnung", heißt es in Seehofers Masterplan gleich in der Präambel. Aha. Nichts Geringeres als die Weltordnung steht also auf dem Spiel. Ein Schelm, wer da bloß an Landespolitik denkt - an eine CSU, die die große Flanke von Rechtsaußen inszeniert, um im Oktober ihre Pfründe zwischen Bayreuth und Berchtesgaden zu verteidigen.
Weniger witzig ist, dass hier tatsächlich zivilisatorische Meilensteine wie das Grundrecht auf Asyl und die offenen Grenzen in Europa für eine populistische Inszenierung aufs Spiel gesetzt werden. Zumal die Eskalation, die Seehofer nun schon seit beinahe zwei Monaten in Kauf nimmt, weltweit durchaus Parallelen hat: Noch nie war die Welt derart verflochten, gleichzeitig ertönt überall der Ruf nach Verstärkung der Grenzen. Die Anlässe für diese Entwicklung sind lokal jeweils ganz unterschiedlich. Gemein ist ihnen das Bestreben, die Verteidigung einer als bedroht empfundenen nationalstaatlichen Ordnung mit einer möglichst einfachen Symbolsprache zu inszenieren.
Fotostrecke
Donald Trumps Build the Wall und Viktor Orbáns populistisches Gesamtkunstwerk sind nur die bekanntesten Beispiele. Überall an den Rändern des Schengenraums schossen seit der Flüchtlingskrise Grenzbefestigungen aus dem Boden, und ältere wurden verstärkt: In Bulgarien, Calais, Ungarn, auf den spanischen Exklaven Melilla und Ceuta, zwischen Norwegen und Russland. Wieder zunehmend in der Debatte stehen auch Israels Sperranlagen zum Westjordanland sowie der neu gebaute unterirdische Wall an der Grenze zu Gaza. Aber auch der Ölstaat Saudi-Arabien errichtet einen Grenzwall, zum Schutz vor Migration aus ärmeren und politisch unruhigeren Nachbarstaaten. Weniger häufig diskutierte Grenzbefestigungen gibt es zwischen Usbekistan und Kirgistan, Thailand und Malaysia, Kenia und Somalia, Indien und Bangladesh sowie Indien und Pakistan; letztere kann sogar vom Weltall aus gesehen werden.
Mauern sind politische Symbole
Die amerikanische Politologin Wendy Brown untersucht in ihrem aktuellen Buch "Mauern: Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität" viele dieser Beispiele in einer globalen Gesamtbetrachtung. Dabei geht es ihr vor allem um die Entlarvung des Rufs nach neuen Grenzbefestigungen. Die neue Tendenz zur Grenzbefestigung sei, anders als man meinen könnte, nicht etwa Zeichen des Wiedererstarkens des Nationalstaats, sondern Zeichen seiner zunehmenden Schwächung. Schließlich seien die neuen Grenzbefestigungen nicht zu einer Abschottung von Staat gegen Staat gedacht. Die globalen Kräfte, gegen die sie Abhilfe schaffen sollten, seien vor allem Migranten aus ärmeren, politisch instabilen Ländern - und damit eigentlich kein gleichwertiger Gegner.
Gering ist nach Brown der praktische Nutzen dieser neuen Grenzbefestigungen. "Andere Polizierungs- und Überwachungsmaßnahmen sind billiger und effektiver", schreibt sie. "Sowohl Einzelpersonen als auch kleine Gruppen können unterwegs mit Überwachungstechnik und Patrouillen besser aufgespürt und umgeleitet werden als mit Mauern." Die neuen Befestigungen seien lediglich symbolpolitische Gesten. Unter Verwendung der archaischen, ja, alttestamentarischen Formensprache der Mauer gaukeln sie dem Volk vor, etwas zu retten, was nicht mehr zu retten ist: isolierte Nationen im Zeitalter der Globalisierung. Unter Einbeziehung des psychoanalytischen Vokabulars Freuds identifiziert Brown diese realitätsferne Inszenierung als Verdrängung der Wirklichkeit, die früher oder später böse enden muss.
Nicht zuletzt erzeugt Verdrängung auch hier entlarvende Komik - etwa die Geschichte der Golden State Fence Company, die Teile der US-amerikanischen Grenzbefestigung zu Mexiko errichtete und selbst illegale Einwanderer beschäftigte. Oder israelische Siedlerfrauen im Westjordanland, die gegen den vorgeschlagenen Verlauf einer Mauer protestierten, weil dieser den Zugang ihrer palästinensischen Haushaltshilfen zu ihren Häusern abschneiden würde.
Männlichkeit wird verteidigt
Auch einen interessanten Gender-Aspekt, der angesichts älterer, männlicher Grenzapologeten wie Trump, Orbán, Sloterdijk und Seehofer aufschlussreich ist, untersucht Brown. Penetrierbarkeit, das heißt Durchlässigkeit, sei "weiblich kodiert", während "Vermögen zur Eingrenzung männlich kodiert" sei. Der Ruf nach Grenzen, so Brown, stellt auch eine Möglichkeit dar, eine als bedroht empfundene Männlichkeit symbolisch zu verteidigen.
Browns Blick ist hilfreich zum Verständnis einer Debatte, die uns noch länger begleiten wird. Obwohl es erst in diesem Jahr auf Deutsch herauskam und auch auf Englisch neu aufgelegt wurde, stammt die Erstausgabe schon von 2010. Gerade weil Browns Überlegungen zur politischen Symbolik der Mauer ihrer Zeit weit voraus waren, fehlt der Bezug zu den Folgen der neuen Grenzbefestigungen.
Nimmt man das auch in der Seehofer-Debatte vorherrschende Element politischer Inszenierung ernst, muss man mit dem Schlimmsten rechnen. Walter Benjamin entlarvte den Faschismus seinerzeit als "Ästhetisierung der Politik": Als Reaktion auf die durch soziale Ungleichheit hervorgerufene Wut habe dieser nicht nach politischen Lösungen gesucht, wie etwa einer gerechteren Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen, sondern "die Massen zu ihrem Ausdruck kommen lassen."
Eine bewusst irrationale, vor allem an der Inszenierung orientierte Politik war das Resultat. Was, wenn sich diese Sogkräfte uralter Mythen wieder unserer Verwaltungsapparate bemächtigten?
14/7/2018
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/fluechtlingsdebatte-warum-mauern-am-ende-keinem-nuetzen-a-1218239.html
Der Ruf nach mehr Grenzschutz
ertönt derzeit global - in ihrem aktuellen Buch analysiert die
Politikwissenschaftlerin Wendy Brown, warum es sich bei dem Trend zur
Abschottung um reine Symbolpolitik handelt.
Weniger witzig ist, dass hier tatsächlich zivilisatorische Meilensteine wie das Grundrecht auf Asyl und die offenen Grenzen in Europa für eine populistische Inszenierung aufs Spiel gesetzt werden. Zumal die Eskalation, die Seehofer nun schon seit beinahe zwei Monaten in Kauf nimmt, weltweit durchaus Parallelen hat: Noch nie war die Welt derart verflochten, gleichzeitig ertönt überall der Ruf nach Verstärkung der Grenzen. Die Anlässe für diese Entwicklung sind lokal jeweils ganz unterschiedlich. Gemein ist ihnen das Bestreben, die Verteidigung einer als bedroht empfundenen nationalstaatlichen Ordnung mit einer möglichst einfachen Symbolsprache zu inszenieren.
Fotostrecke
Donald Trumps Build the Wall und Viktor Orbáns populistisches Gesamtkunstwerk sind nur die bekanntesten Beispiele. Überall an den Rändern des Schengenraums schossen seit der Flüchtlingskrise Grenzbefestigungen aus dem Boden, und ältere wurden verstärkt: In Bulgarien, Calais, Ungarn, auf den spanischen Exklaven Melilla und Ceuta, zwischen Norwegen und Russland. Wieder zunehmend in der Debatte stehen auch Israels Sperranlagen zum Westjordanland sowie der neu gebaute unterirdische Wall an der Grenze zu Gaza. Aber auch der Ölstaat Saudi-Arabien errichtet einen Grenzwall, zum Schutz vor Migration aus ärmeren und politisch unruhigeren Nachbarstaaten. Weniger häufig diskutierte Grenzbefestigungen gibt es zwischen Usbekistan und Kirgistan, Thailand und Malaysia, Kenia und Somalia, Indien und Bangladesh sowie Indien und Pakistan; letztere kann sogar vom Weltall aus gesehen werden.
Mauern sind politische Symbole
Die amerikanische Politologin Wendy Brown untersucht in ihrem aktuellen Buch "Mauern: Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität" viele dieser Beispiele in einer globalen Gesamtbetrachtung. Dabei geht es ihr vor allem um die Entlarvung des Rufs nach neuen Grenzbefestigungen. Die neue Tendenz zur Grenzbefestigung sei, anders als man meinen könnte, nicht etwa Zeichen des Wiedererstarkens des Nationalstaats, sondern Zeichen seiner zunehmenden Schwächung. Schließlich seien die neuen Grenzbefestigungen nicht zu einer Abschottung von Staat gegen Staat gedacht. Die globalen Kräfte, gegen die sie Abhilfe schaffen sollten, seien vor allem Migranten aus ärmeren, politisch instabilen Ländern - und damit eigentlich kein gleichwertiger Gegner.
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Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität
Aus dem US-Amerikanischen von Frank Lachmann übersetzt
Suhrkamp Verlag; 260 Seiten; 28 Euro
Gering ist nach Brown der praktische Nutzen dieser neuen Grenzbefestigungen. "Andere Polizierungs- und Überwachungsmaßnahmen sind billiger und effektiver", schreibt sie. "Sowohl Einzelpersonen als auch kleine Gruppen können unterwegs mit Überwachungstechnik und Patrouillen besser aufgespürt und umgeleitet werden als mit Mauern." Die neuen Befestigungen seien lediglich symbolpolitische Gesten. Unter Verwendung der archaischen, ja, alttestamentarischen Formensprache der Mauer gaukeln sie dem Volk vor, etwas zu retten, was nicht mehr zu retten ist: isolierte Nationen im Zeitalter der Globalisierung. Unter Einbeziehung des psychoanalytischen Vokabulars Freuds identifiziert Brown diese realitätsferne Inszenierung als Verdrängung der Wirklichkeit, die früher oder später böse enden muss.
Lesen Sie hier ein Interview mit Wendy Brown
Nicht zuletzt erzeugt Verdrängung auch hier entlarvende Komik - etwa die Geschichte der Golden State Fence Company, die Teile der US-amerikanischen Grenzbefestigung zu Mexiko errichtete und selbst illegale Einwanderer beschäftigte. Oder israelische Siedlerfrauen im Westjordanland, die gegen den vorgeschlagenen Verlauf einer Mauer protestierten, weil dieser den Zugang ihrer palästinensischen Haushaltshilfen zu ihren Häusern abschneiden würde.
Männlichkeit wird verteidigt
Auch einen interessanten Gender-Aspekt, der angesichts älterer, männlicher Grenzapologeten wie Trump, Orbán, Sloterdijk und Seehofer aufschlussreich ist, untersucht Brown. Penetrierbarkeit, das heißt Durchlässigkeit, sei "weiblich kodiert", während "Vermögen zur Eingrenzung männlich kodiert" sei. Der Ruf nach Grenzen, so Brown, stellt auch eine Möglichkeit dar, eine als bedroht empfundene Männlichkeit symbolisch zu verteidigen.
Nimmt man das auch in der Seehofer-Debatte vorherrschende Element politischer Inszenierung ernst, muss man mit dem Schlimmsten rechnen. Walter Benjamin entlarvte den Faschismus seinerzeit als "Ästhetisierung der Politik": Als Reaktion auf die durch soziale Ungleichheit hervorgerufene Wut habe dieser nicht nach politischen Lösungen gesucht, wie etwa einer gerechteren Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen, sondern "die Massen zu ihrem Ausdruck kommen lassen."
(Mehr zur Aktion "Deutschland spricht" finden Sie hier .)
14/7/2018
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/fluechtlingsdebatte-warum-mauern-am-ende-keinem-nuetzen-a-1218239.html